Montag, 21. September 2015

Die Sache mit der Rückkehr

Es fällt mir schwer, diesen Text zu schreiben. Dieses weiße, virtuelle Nichts zu füllen. Niemand hat mich dazu genötigt, niemand erwartete es von mir (okay Marius, das musst du geflissentlich überlesen) und doch möchte ich so viel erzählen, ja erklären. Vor zwei Jahren begann mein größtes Abenteuer, seit einem Jahr bin ich wieder in Deutschland. Wo ist die Zeit geblieben, wo fange ich an mit dem Erzählen und schreibe ich das hier eigentlich alles nur für mich selbst, um einmal Klarschiff zu machen? Ich weiß es nicht und vielleicht, vielleicht will ich es auch nicht wissen.

Der Wind streift um meine Knöchel. Den Schal um den Hals gewickelt, sitze ich auf der Terrasse, obwohl die Tage dafür eigentlich auch der Vergangenheit angehören. Aber Sachen zu akzeptieren und zu realisieren gehörte noch nie zu meinen Stärken. Meine Füße stecken noch in sommerlichen Stoffschuhen und wollen einfach nicht warm werden. Der Herbst kommt, mit all seiner Macht. 

Vor ein paar Tagen schrieb ich Marius, der sich wieder einmal auf den Weg nach Perm (irgendwo im tiefsten russischen Nirwana) gemacht hatte, um alles für den neuen Freiwilligen (und ich gendere jetzt mal bewusst nicht) vorzubereiten. Unser virtuelles Schreiben war wie immer wunderbar unkompliziert und ich nahm mir vor, Marius endlich mal wieder zu sehen. Potsdam soll ja auch sehr schön sein und irgendwie verbindet einen doch einiges (Marius bracht mir den Uhuruf bei), obwohl man nahezu in der Maximalentfernung von 8405.77 km seinen Dienst leistete. 





Dieses Rückkehren begegnete mir in den letzten Wochen und Monaten immer wieder. Ob Norwegen, Israel, Sommerlager irgendwo in Europa oder ein Besuch bei Vorgesetzten, die zu Freunden wurden (Lukas und Lorenz, ich hoffe, ihr habt eine wunderbare Zeit in Cleveland!), man konnte schon so eine gewisse Dynamik erkennen. Mich machte das alles ein bisschen traurig, da für mich ein ordentlicher Urlaub aus mehreren Gründen nicht in Frage kam. Ich hatte mich allen Ernstes für einen Sommersprachintensivkurs (Französisch) der Uni Tübingen angemeldet, um dann, nachdem ich sämtliche Heimatbesuche dem angepasst hatte, eine E-Mail zu bekommen, die mir den Ausfall des Kurses wegen mangelnder Beteiligung verkündete. Was soll man da noch sagen, Karma 1:0? 
Und so stellte sich mir die Frage, ob wir nicht alle ein bisschen zurück wollen und unser Kopf noch ein bisschen im Gestern gefangen ist.

10. August 2015. Meine Prüfungen sind alle abgehakt und bestanden, ich übe mich hingebungsvoll im "dolce far niente". Der heimische Garten und der sich immer wieder von allein füllende Kühlschrank tragen dazu maßgeblich bei. In einer Woche beginnt eine Kinderfreizeit, die nun in die heiße Vorbereitungsphase startet. Zwischen Kubikmetern von Bastelbedarf, Duschzubehör und Absperrband erreicht mich eine Nachricht von Fritz:


Hallo Antonia, Svenja hat mir erzählt du würdest sie in nächster Zeit (so wie ich) gerne besuchen kommen
„wink“-Emoticon

wie wärs denn mit der 1. September Woche, dann wären wir gemeinsam dort
„grin“-Emoticon


Nach einer Woche ist alles geregelt und ich, erschöpft nach dem ersten Tag Kinderwoche und der nächtlichen Besprechung, buche im Zelt meinen Flug nach Amsterdam. Grinsend tapse ich wieder zurück zu den anderen.
1. September 2015. Nach einer Woche in Tübingen und einem hektischen Vormittag geht es mit dem Bus an den Stuttgarter Flughafen. Alles klappt ohne Komplikationen und ich sitze sogar allein auf meiner Dreierreihe. Mit mir an Bord ist eine große Ansammlung junger Menschen. Und während wir irgendwo über Deutschland oder Holland stecken, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Heute ist der 1. September. Vor zwei Jahren fing es an, vor einem Jahr und einem Tag endete es und heute bist du auf dem Weg zu deinen beiden Mitstreitern, Freunden, Vertrauten - oh ja, Schicksal, du bist meiner noch hold. Es folgen wunderbare Tage in Groningen und Amsterdam. Wir kochen und reden viel, schauen uns um und genießen die Zeit zusammen. Während wir einen Kaffee trinken, stelle ich die Frage, die mich beschäftigt. Und überraschender Weise können auch wir drei, die sonst viel diskutieren und das auch sehr exzessiv betreiben, einen Konsens finden: es zieht einen zurück in die USA, nach DC, nach Nordamerika. So als wäre da noch eine Geschichte, die man noch zu Ende schreiben oder erzählen muss. So als wäre es noch nicht zu Ende und man weiß es.



Svenja und Fritz im wunderschönen Groningen


Der Zug bahnt sich seinen Weg durch grüne Wiesen und Wälder, der Regen schlägt ans Fenster. Ich drücke meine Nase an der Scheibe platt, genieße die Aussicht und bin mal wieder auf dem Weg. In den letzten drei Wochen waren es insgesamt 3.279 km, mal mit dem Auto, mal mit der Bahn und auch mit dem Flugzeug. Nun bin ich auf dem Weg zu meinen Eltern. Es geht von Groningen nach Quedlinburg, einmal quer durch Norddeutschland. In meiner Tasche stecken nur 3 Bücher. Diesmal wollte ich nicht gefühlt meine kleine ausgewachsene Reisebibliothek einpacken. Ich zücke meine grau-weiß gepunktete Kladde und schreibe ein bisschen. 
Auch die Tage in Quedlinburg vergehen wie im Flug. Wir besuchen gefühlt jede Kirche im Umkreis von 40 km und dank meines Proseminars zu den Ottonen und meines mittelalterlichen Architekturkurses in Bonn fällt mir auf, wie oft hier Stuss erzählt wird. In Gernrode betreten wir die Kirche kurz vor halb 3. Da es um 15 Uhr eine Führung geben soll, gehen wir noch schnell einen Kaffee trinken. Punkt 3 sind wir eine Gruppe von 5 Personen und die Führung beginnt. Nach gut anderthalb Stunden stehen wir noch ein bisschen im Hauptschiff und lassen die Kirche einfach nochmal wirken. Nach einiger Zeit gehen Papa und ich zu der Frau und ihrem Mann, der im Rollstuhl sitzt. Da der Kircheneingang aus viele Stufen besteht, wollen wir helfen. Es entsteht ein Gespräch und die Frau fragt mich, was ich studiere. Ich antworte "Geschichte in Tübingen, nicht auf Lehramt." und berichte, dass ich ein Jahr in den USA in einem Museum gearbeitet habe. Nun ist ihre Neugierde geweckt, sie fragt weiter nach und als ich USHMM sage, ist sie hin und weg. Sie (Frau Jacobeit): "Ach wissen Sie, wir waren erst dieses Jahr am DHI in Washington und dann natürlich auch im Holocaust-Museum!" Desweiteren erklärt sie, dass sie an der HU arbeitet. Nun ist meine Neugierde geweckt. Auf dem Weg zum Ausgang schaut sie mich an und sagt nur: "Es ist nie zu spät für einen Wechsel an die HU."
Im Auto packe ich mein Handy aus und lege los. Kurze Zeit später werde ich fündig: Prof. Dr. Sigrid Jacobeit, Honorarprofessorin an der HU Berlin u.a. für Frauen im Widerstand gegen den NS und Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück. Es ist verrückt.

Zwei Tage später stehe ich in Quedlinburg in der Buchhandlung Gebecke und stöbere vor mich hin. Ich drehe mich um und glaube meinen Augen nicht. Da steht es. Alfred Rosenbergs Tagebücher von 1934 bis 1944. Ich schlage das Buch auf und da ist es wieder, das United States Holocaust Memorial Museum, mein Museum.




Ich gehe zur Kasse und packe das Buch auf den Tisch. Am liebsten würde ich der Frau, die mein Grinsen sicherlich anders deutet, meine ganze Geschichte erzählen. Ich kenne den Mann, der dieses Buch nun mit herausgegeben hat. Ich kenne den Mann, der die Tagebücher ausfindig gemacht hat. Am Tag der Bekanntgabe des Fundes bin ich an Henrys Büro vorbei gelaufen und habe Hallo gesagt, ich saß an einem Schreibtisch des USHMMs.

Nun sitze ich in Großröhrsdorf in einem Ohrensessel, schreibe mittlerweile seit über zwei Stunden an diesem Text und es läuft wieder. Ich studiere in Tübingen Geschichte, nicht auf Lehramt. Vielen Menschen verstehen das nicht. Aber wenn ich an die letzten Tage und an die letzten Jahre denke, dann macht das alles Sinn. Ich bin wieder angekommen, aber ein Teil von mir wird auch immer im Museum zuhause sein. Weil es ein Teil von mir ist.



Liebste Grüße aus Lummerland,
Eure Toni

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